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Sylter Erklärung
zu Bürokratieabbau in der Wissenschaft

Ergebnisse des Hochschulforums Sylt 2023

Leiden Sie unter der steigenden Bürokratisierung in der Wissenschaft oder beobachten dies mit Sorge?

 

Hier werden Ihnen lösungsorientierte Aufgaben der nahen Zukunft dargestellt!

Der Trend zu immer weiterer Bürokratisierung in der Wissenschaft lässt sich stoppen -- sogar umkehren. Fangen wir bei uns selber in den Hochschulen an! Der beigefügte Text -- auf Einladung des Unterzeichneten in einer einwöchigen Klausur, dem Hochschulforum Sylt (daher "Sylter-Erklärung") entwickelt, zeigt – den Mut aller Beteiligten vorausgesetzt -- in wechselnden Perspektiven Auswege aus den Bürokratisierungstrends.

26 Expertinnen und Experten -- überwiegend in Leitungsaufgaben in und für die Wissenschaft zuhause -- haben realistische Wege aus der steigenden Bürokratisierung erarbeitet. Hier muss eine Trendumkehr gelingen, denn der herrschende Trend lähmt Bedürfnisse und Abläufe in der Wissenschaft (Forschung und Entwicklung, Lehre und Studium) immer mehr. In der Forschung muss der Erkenntnisprozess wieder in den Mittelpunkt rücken und den größten Zeitanteil eingeräumt bekommen, nicht der zeitliche Aufwand für seine finanziellen Voraussetzungen, Kontrolle und Abrechnung. Und Studium ist eine Bildungsaufgabe aller Beteiligten, nicht nur ein Zertifizierungsprozess, der rechtlich und testtheoretisch "wasserdicht" gestaltet und durchgeführt werden muss. Die Sylter Erklärung betrifft die Verhältnisse innerhalb der Hochschulen, zwischen Hochschulen und Bundesländern, Bundesländern untereinander, Bund und Ländern sowie auf EU-Ebene.

Wolff-Dietrich Webler

Sylter Erklärung

Mehr Mut – weniger Bürokratie!

In der Diskussion um die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist die Forderung nach einem massiven Abbau von Bürokratie an die Spitze der Agenda gerückt. Das gilt auch für den Bereich Hochschule und Wissenschaft, in dem ein Übermaß an Reglementierung und kleinteilige Handhabung den notwendigen Freiraum für Kreativität und Innovation gefährden.

Die folgenden Vorschläge sind in einem einwöchigen Dialog von 26 Personen entstanden, die als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, in der Wissenschaftspolitik, der Verwaltung und der Hochschulforschung überwiegend in Leitungsfunktionen tätig sind. Sie wollen Anstöße für praktische Verbesserungen geben, angefangen von der Hochschule vor Ort bis zum Verantwortungsbereich von Bund und Ländern. Sie gehen davon aus, dass die meisten Regelungen durchaus Anlass, Sinn und Zweck haben, ihre konkrete Ausgestaltung und praktische Handhabung aber oftmals zu Komplizierungen und Verzögerungen bis hin zu Lähmungen führen. Es geht bei den folgenden Vorschlägen daher nicht primär um Abbau von Bürokratie als vielmehr um deren Veränderung und Verbesserung in Richtung auf ein Management, das Kräfte freisetzt, statt lähmt und den Eigengesetzlichkeiten von Bildung und Wissenschaft Rechnung trägt, ohne die legitimen Interessen der Gesellschaft außer Acht zu lassen. 1)

1. Was wir selber tun wollen

Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen haben erhebliche Spielräume, selbst zu maß- und sinnvoller Bürokratie beizutragen.

Ein wesentlicher Schritt in Hochschulen ist die Förderung der produktiven Zusammenarbeit von Wissenschaft und Verwaltung.

Viele Probleme haben ihre Ursache darin, dass Wissenschaft und Verwaltung unterschiedlichen Logiken folgen, die wechselseitig nicht ausreichend bekannt sind und zum Gefühl der Gängelung auf Wissenschaftsseite und der mangelnden Wertschätzung auf Verwaltungsseite führen. Beide Logiken sind trotz unterschiedlicher Legitimation jedoch für das Funktionieren der Einrichtung gleichermaßen notwendig. 2)

Zentral sind alle Maßnahmen, die ein wechselseitiges Kennenlernen ermöglichen und Vertrauen fördern, so dass die notwendige administrative Begleitung von Wissenschaft als zielführend empfunden wird und eine Kultur des besseren und wertschätzenden Miteinanders entsteht. Dies sind beispielsweise:

  • Onboarding-Prozesse sowohl für Wissenschaftler/-innen als auch für Mitarbeitende in der Verwaltung. Die Prozesse sollen auch jeweils Einblicke in “die andere Seite” ermöglichen

  • Gezielte Personal- und Organisationsentwicklung, welche Wissenschaft und Verwaltung integriert betrachtet - z.B. durch

    • Struktur- und Entwicklungsplanung unter frühzeitiger Einbindung der Verwaltung,

    • Programme zur Weiterqualifikation von Wissenschaftler/-innen für wissenschaftsnahe Verwaltungstätigkeiten,

    • gegenseitige Hospitationen.

  • Anstelle einer möglichst lückenlosen und damit oft sehr bürokratischen Regelung aller vorstellbarer Prozesse und Konstellationen ist es oftmals sinnvoller, Entscheidungsspielräume zu schaffen, beispielsweise in Studienorganisation und -betrieb.

  • Für die notwendige Kontrolle, ob Regeln eingehalten werden, reichen Stichproben oft aus und führen zu einer Arbeitsentlastung - im Großen wie Kleinen, vom Berichtswesen (s.u.) über Lehrevaluationen bis zu Reisekostenabrechnungen. 3)

  • Fehlerkultur etablieren: Der Betrieb sollte nicht durch die permanente Angst vor Fehlern (und den damit einhergehenden Wunsch nach neuen Regeln) gelähmt werden.

  • Verwaltung kann und soll frühzeitig in Gestaltungsprozesse lösungsorientiert einbezogen werden; das gilt insbesondere für die juristischen Aspekte.

  • Oft gibt es Best-Practice-Beispiele aus anderen Fachbereichen, Hochschulen oder Ländern, die sich übernehmen lassen oder als Anregung dienen können. Dies beginnt mit der Übernahme einer Promotionsordnung aus einem anderen Fachbereich und reicht bis zu einem Projekt wie “Vereinfachen und Weglassen” an der Universität Kassel. 4)

  • Digitalisierung sollte möglichst flächendeckend genutzt werden, um Prozesse zu vereinfachen. Gerade bei der Digitalisierung kommt es darauf an, dass sie “gut gemacht” wird, dass sie nutzerfreundlich und hinreichend flexibel ausfällt, dass Überflüssiges aus den bisherigen analogen Prozessen nicht digitalisiert, sondern weggelassen wird.

 

Das in diesem Abschnitt Gesagte gilt - indirekt - auch für akademische Gremien, für ihre Gestaltungsmöglichkeiten und Entscheidungsprozesse.

 

2. Wünsche an die Partner der Wissenschaft in Ministerien, Fördereinrichtungen, Rechnungshöfen

Die im Folgenden aufgeführten Maßnahmen dienen nicht der Abschaffung von Regeln. Vielmehr handelt es sich um Vorschläge für Änderungen an Prozessen, um sie kohärenter, zielführender, zeiteffizienter, partizipativer und vertrauensbasierter zu gestalten. Sie sind zumeist ohne Änderungen von Gesetzen realisierbar. Beträchtliche Bürokratielasten können bereits vermieden werden, indem die hier angesprochenen Adressaten ihre jeweiligen Handlungsspielräume ausschöpfen. Die Vorschläge werden die Qualität einer notwendigen Aufsicht und Kontrolle nicht senken, wohl aber die Quantität.

Fördereinrichtungen

Zweistufige Verfahren (Kurz- und Vollantrag) sollten nur bei besonders großen Fördermaßnahmen gewählt werden. Skizzen müssen Skizzen bleiben.

Generell sollte bei der Drittmittelbewirtschaftung eine möglichst große Flexibilität gewährleistet werden; insbesondere sollte eine Übertragbarkeit zugewiesener Mittel über die Jahre und eine Deckungsfähigkeit zwischen den einzelnen Kostenpositionen ohne weitere Begründungspflicht möglich sein. Eine einmalige Plausibilitätsprüfung im Antragsverfahren ist hierfür die notwendige Grundlage.

Die qualitative Begutachtung des Forschungsprozesses und der Outcomes ist einer rein quantitativen Begutachtung des Outputs vorzuziehen. Aufgrund des damit verbundenen Aufwands ist es umso notwendiger, möglichst effiziente Verfahren (Stichproben) zu entwickeln. Gerade für eher qualitative Begutachtungsverfahren sind Gutachterschulungen eine notwendige Voraussetzung.

Neben der traditionellen Form der programmorientierten Förderung sollte ein bestimmter Anteil des Programmbudgets für besonders risikoreiche Projekte zur Verfügung stehen (vergleichbar mit dem Programm „Frei-Denker“ der VolkswagenStiftung).

Berichtspflichten

Die bisher übliche Vollprüfung sämtlicher Projekte sollte durch Stichprobenprüfungen ersetzt werden. Damit können Berichtspflichten sowie der Prüfaufwand erheblich reduziert werden.

Alle öffentlichen Geldgeber sollten sich auf gemeinsame Berichtspflichtenkataloge und Haushaltsverwendungsnachweise verständigen, die sich auf die wesentlichen, notwendigen Punkte beschränken.

Projektträger

Die politische Steuerung und die konzeptionelle Gestaltung des eigenen Förderhandelns obliegt allein dem jeweiligen Ministerium und sollte weder de jure noch de facto auf Projektträger übertragen werden. Deren Aufgaben sollten auf Administration und Beratung beschränkt werden. Verfahren und Organisation sollten projektträgerübergreifend (und zwar auf Ebene des Bundes und der Länder) harmonisiert werden.

Projektträger sollten durch den Wissenschaftsrat evaluiert werden.

Hochschulbau

Im Hochschulbau ist neben der Lösung der bekannten finanziellen Probleme (allein für Hochschulbauten wird ein Sanierungsstau von 74 Mrd. Euro angeführt) eine erhebliche Beschleunigung der Prozesse erforderlich, die schon zu einer spürbaren Verbesserung der derzeitigen Situation führen würde.

Die konkreten Regelungen und Organisationsformen des Hochschulbaus unterscheiden sich zwischen den Bundesländern. Gleichwohl gibt es Lösungsvorschläge, die landesübergreifend Wirkung entfalten würden:

  • Die noch weitgehend praktizierte doppelte Genehmigungsschleife von Raumprogramm und Entwurfsplanung sollte auf eine Genehmigung reduziert werden.

  • Die verschiedenen Prüfungsabläufe der unterschiedlichen Genehmigungsbehörden sollten generell parallelisiert werden.

  • Inflationsinduzierte Baupreissteigerungen sollten in einem definierten Korridor ohne neue Prüfung zulässig sein.

  • Die Kostengrenze für die Prüfungsfreiheit kleiner Baumaßnahmen sollte auf 20 Mio. Euro erhöht werden.

  • Für die Beschleunigung und Planungssicherheit von Genehmigungsverfahren sollte die Einführung von Ausschlussfristen geprüft werden.

 

3. Wissenschaft und Gesellschaft

Die Wissenschaft hängt, wie alle anderen Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft, von zahlreichen weiteren Regulierungen von kommunaler bis EU-Ebene ab, von Arbeits- über Umwelt- bis Datenschutzrecht et cetera. Daraus erwachsen zahlreiche weitere bürokratische Herausforderungen, die im Zuge sektorenübergreifender Bürokratie-Entlastungsaktivitäten angegangen werden sollten. Die hier für den Bereich Wissenschaft und Hochschulen vorgeschlagenen Ansätze zeigen aber, dass sich schon unter den gegebenen Bedingungen Vieles zum Besseren wenden lässt. Dazu braucht es den guten Willen aller Verantwortlichen und nicht zuletzt: mehr Mut!

 

1) Die Vorschläge sind relativ allgemein formuliert, um ihre vielfältige Gültigkeit bzw. Anwendbarkeit zu unterstreichen.

2) Vgl. Peter-André Alt, Exzellent?! Zur Lage der deutschen Universität, München 2021, S. 148-159, bes. S. 149-153.

3) Die Reduktion der Kontrollen auf Stichproben beruht auf Vertrauen; der Missbrauch dieses Vertrauens müsste dann fühlbar bestraft werden.

4) https://www.uni-kassel.de/hochschulverwaltung/aktuelles/einzelmeldung-news/2023/07/19/praesentation-der-ergebnisse-von-vereinfachen-und-weglassen-wir-bleiben-am-ball.

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